Luxus für alle – Karen Beckmann

Fallstudie

Luxus für alle – Meilensteine im europäischen Terrassenwohnbau

Veröffentlicht Oktober 2020

ISBN 978-3-0356-1880-8

 

 

Weitere Informationen und Bestellung unter: https://birkhauser.com/de/books/9783035618983

 

 

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Zusammenfassung / Teaser:

Wir freuen uns, einen besonderen Fachbeitrag von Dr. Karen Beckmann auf unserer Website zu präsentieren. In dieser Publikation werden die Terrassenhaussiedlung St. Peter in Graz unter die Lupe genommen – ein architektonisches Meisterwerk, das als Fallstudie dient, um die Evolution urbanen Wohnens zu beleuchten.

Obwohl dieses Projekt nicht aus unserer Feder stammt, bietet die Analyse wertvolle Erkenntnisse über innovative Wohnkonzepte, die bis heute Nachhall finden. Erfahren Sie, welche architektonischen und sozialen Qualitäten die Terrassenhaussiedlung auszeichnen und warum sie ein beispielhaftes Modell für zukünftige Wohnprojekte darstellt.

 

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Terrassenhaussiedlung St. Peter, Graz

Individualität und Gemeinschaft – wie die Architektur das Leben in der Terrassenhaussiedlung Graz-St. Peter prägt

Karen Beckmann

 

Mit der Terrassenhaussiedlung St. Peter in Graz entstand nach langer Planungszeit seit 1965 in den Jahren 1972 bis 1978 ein Gebäudeensemble, das der Typologie eines „Großwohnkomplexes“ zugeordnet werden kann. Charakteristisch für diesen Gebäudetypus sind neben einer verbindenden Tiefgarage eine fußläufige Erschließung des Kom-plexes, eine hohe funktionale Mischung und bauliche Dichte sowie eine eindeutige Gestalt und Abgrenzung zur Umgebung. Unterschiedliche Studien bescheinigen der Terrassenhaussiedlung bis heute eine hohe Bewohnerzufriedenheit.‘ Es kann angenommen werden, dass die anhaltend hohe Zufriedenheit der Bewohner des Komplexes auf besondere architektonische und städtebauliche Qualitäten hindeutet.

Doch um welche Qualitäten handelt es sich genau? Wie sind diese Qualitäten heute zu bewerten und kann die Terrassenhaussiedlung auch rund vierzig Jahre nach ihrer Fertigstellung als richtungsweisend für neue Wohnkonzepte unserer Zeit angesehen werden? Um diese Fragen beantworten zu können, lohnt ein genauerer Blick in die Entstehungs-, Ausgestaltungs- und Rezeptionsgeschichte der Siedlung.

 

Auf zu neuem Denken.

Die Entstehung der Terrassenhaussiedlung im Kontext der Geschichte

 

Der Entwurf des Gebäudekomplexes stammt von den Architekten Hermann Pichler, Eugen Gross, Friedrich Gross-Rannsbach und Werner Hollomey, die sich im Jahr 1959 unter dem Namen „Werkgruppe Graz“ zusammenschlossen. Die zu dieser Zeit international einsetzende Abwendung vom städtebaulichen Funktionalismus und die Entstehung der architekturtheoretischen Strömung des Strukturalismus können als stilprägend für die Werkgruppe Graz und ihre Arbeiten in den darauffolgenden Jahren angesehen werden.

So beschreibt Eugen Gross in einem Beitrag mit dem Titel „Wie der Strukturalismus die Grazer Schule der Architektur beeinflusste“ das für die Entwürfe grundlegende Prinzip der Trennung von Primärstrukturen, die als Gerüst fungierten, und Sekundärstrukturen, die je nach Bedarf ausgetauscht werden konnten. Der Entwurf soll dabei als ein wandel- und erweiterbares, offenes System verstanden und Funktionsmischungen anstatt monofunktionaler Segregation erreicht werden. Die Terrassenhaussiedlung in Graz-St. Peter ist diesem strukturalistischen Denken entlehnt, sind ihr doch sowohl der Ansatz des erweiterbaren Ganzen als auch der einer konstruktiven Struktur, in dem die „Ausbaumodule“ integriert wurden, inhärent. Anhand ihrer Konzeption sollte die Siedlung „aktives soziales Wohnverhalten provozieren und zum Leben in der Öffentlichkeit durch kommunikative Einrichtungen anregen“.4

Die internationale Aufbruchsstimmung, in der sich in Architektur und Städtebau Denkweisen wie die des Strukturalismus etablieren konnten, war in der Planungszeit der Terrassenhaussiedlung in den 1960er-Jahren auch in Österreich zu spüren. Rückblickend kann konstatiert werden, dass die liberale und offene, technik- und fortschrittsgläubige Gesellschaft dieser Zeit sowie der Glauben an die Plan- und Machbarkeit von Großprojekten einen maßgeblichen Einfluss auf die Möglichkeit der Umsetzung eines Projektes wie dem der Terrassenhaussiedlung hatten.6

 

Mehr als Architektur.

Der Entwurf und das soziale Leben

 

Der Entstehung und Realisierung der Terrassenhaussiedlung ging ein langjähriger Planungsprozess voraus. Das Grundstück der Terrassenhaussiedlung befand sich in den 1960er-Jahren in einer Randlage der Stadt Graz. Während die Umgebung durch eine Bebauung in Form von Ein- und Mehrfamilienhäusern geprägt war, blieb ein Grundstück lange Zeit unbebaut. Eine ehemalige Lehmgrube war nach dem Zweiten Weltkrieg mit Schutt und Abfall gefüllt worden, sodass der Baugrund keine Tragfähigkeit besaß? Bedingt durch diesen schwer handzuhabenden Baugrund wurde eine Tiefgründung aus Betonpfählen notwendig, auf die ein konstruktives Raster aus sieben mal sieben Meter Stahlbeton gelegt wurde. Dieses Raster bildete die Basis für die Tiefgarage der Terrassenhaussiedlung.

Darüber entwickeln sich vier, zueinander versetzt angeordnete und bis zu elfgeschossige Wohngebäude mit terrassiertem Sockel und Geschosswohnungen in den höheren Etagen. Durch das Versetzen der Baukörper zueinander sowie eine gegenläufige Höhenstaffelung der Gebäude wurde nicht nur eine optimale Belichtung und Aussicht für alle Wohnungen in der Siedlung erreicht, sondern gleichzeitig fußläufige Verbindungen vom umgebenden Grünraum in den Innenraum der Siedlung geschaffen.® Die oberhalb der Tiefgarage angeordneten, autofreien Freiflächen zwischen den Gebäuden wurden als kleinräumig gegliederter, fußläufig zu erschließender, verbindender

Karen Beckmann

und vielfältig gestalteter Grünraum ausgebildet. Der Begrünung der Siedlung wurde bereits während der Entstehungszeit eine hohe Aufmerksamkeit zuteil.® So sollte nicht nur der Freiraum oberhalb der Tiefgarage, sondern darüber hinaus auch die Fassade natürlich gestaltet werden. Baulich wurde eine solche Begrünung durch (Dach-) Terrassen und Balkone ermöglicht, die mit Pflanztrögen ausgestattet wurden. Diese wurden so angeordnet, dass sie den Blick auf die darunterliegende Terrasse abschirmen. Die Ausgestaltung der rund fünfhundert Wohnungen umfasst ein bis vier Zimmer unterschiedlicher Typologien: Maisonette-, Terrassen- oder Atelierwohnungen und großzügige Außenräume bilden das Gesamtensemble. Das Ergebnis ist eine stark durchgrünte Siedlung, wobei nahezu jede Wohnung einen eigenen privaten Freiraum durch Terrassen, Balkone oder Dachterrassen besitzt.’° Das Bild des „gestapelten Einfamilienhauses“ stand dabei Pate für die Konzeption der Anlage.“

Oberhalb des terrassierten Sockels eines jeden Gebäudes befindet sich eine öffentliche Kommunikationsebene. Durch diese Ebene wird die vertikale Erschließung der Treppenhäuser um eine horizontale Verbindung ergänzt, die die Entstehung und Festigung von Nachbarschaftsbeziehungen durch informelle Kontakte unterstützen sollte.12 Die Wohnungen wurden mit individuell planbaren Fassadenelementen ausgestattet, deren Erscheinungsbild noch heute maßgeblich das heterogene und vielfältige Fassadenspiel der Terrassenhaussiedlung prägt. Die zukünftigen Bewohner der Siedlung konnten bereits in der Bauphase ihre Wohnungen sowie die Fassadengestaltung mitentwickeln. Voraussetzung war in diesem Zusammenhang das konstruktive System der Schottenbauweise, das eine individuelle Grundrissgestaltung innerhalb der Tragstruktur ermöglichte. Auf Ebene des Kommunikationsgeschosses wurden hier Wohnungsmodule ohne Fassaden und Innenausbau frei gelassen, um eine spätere Aneignung dieser Flächen durch die Bewohner zu ermöglichen.

Eine funktionale Mischung wird heute vermehrt durch Arbeiten und Wohnen sowie gemeinschaftliche Räume der „Interessengemeinschaft Terrassenhaussiedlung Graz-St. Peter“ erreicht. Die Planung eines baulichen Zentrums mit Hotel, Einzelhandel und Café wurde bereits in der Planungsphase verworfen, als deutlich wurde, dass die Infrastrukturen in der Umgebung ausreichend vorhanden waren.13

 

Raum für Gemeinschaft.

Die Aneignung der Terrassenhaussiedlung im Laufe der Zeit

 

In einer Bewohnerbefragung, die zwischen März 2017 und Februar 2018 in der Terrassenhaussiedlung im Rahmen der „Sondierungsstudie Terrassenhaussiedlung“ (SONTE) mit dem Ziel der Entwicklung eines Leitbilds bzw. Modernisierungsleitfadens für die kommenden vierzig Jahre durchgeführt wurde, wurde nicht nur die hohe Bewohnerzufriedenheit deutlich, sondern vor allem die Qualität der Innenhofflächen als Gemeinschaftsraum herausgestellt. 4 Aneignung und Identifikation mit der Siedlung werden auch durch die hohe Individualität der Wohnungen und die Möglichkeiten der Umgestaltung erreicht. „Die Terrassenhaussiedlung ist nicht nur eines der wenigen utopisch anmutenden Projekte dieser Größenordnung, die tatsächlich realisiert wurden, sie ist gleichzeitig ein Schlüsselprojekt für die Mitbestimmung im Wohnbau“ heißt es in einem Dossier über die Terrassenhaussiedlung.15 Das anhaltend hohe Engagement für die Siedlung in der Interessengemeinschaft ist auch auf die Bewohnstruktur, die Wohnungen sind alles Eigentumswohnungen und werden zu einem hohen Anteil auch von den Eigentümern be-wohnt, zurückzuführen.

Nachdem das „Zeitalter der Megastrukturen“ Mitte der 1970er-Jahre beendet war, geriet auch die Terrassenhaussiedlung in die Kritik der Öffentlichkeit. Erstaunlich ist dabei, dass die Bewohnerzufriedenheit gleichzeitig jedoch konstant hoch blieb. Heute eröffnet das vermehrt entstehende Interesse an „brutalistischen“ Bauten der 1960er- und 1970er-Jahre, wieder eine neue Perspektive auf die Gebäudestrukturen dieser Zeit. 6 Gleichzeitig muss konstatiert werden, dass die (energetische) Sanierung der Gebäude der 1960er- und 1970er-Jahre nicht nur für die Terrassenhaussiedlung problematisch ist. Insbesondere die Komplexität und Größe der Anlage erschwert anstehende Sanierungsmaßnahmen erheblich.“ Auch ist festzustellen, dass die Aneignung der öffentlichen Freiflächen an den Kopfbauten der Gebäude nicht nachhaltig funktioniert, sodass diese Flächen nun gesperrt und ungenutzt brachliegen.!8 Trotzdem überwiegen in der Rezeption, insbesondere der der Bewohner, die Qualitäten der Siedlung.

 

Urbanes Wohnen.

Die Qualitäten der Terrassenhaussiedlung heute

 

Die Qualitäten der Terrassenhaussiedlung liegen, wie in vielen Groß-wohnkomplexen dieser Zeit, in der eindeutigen Gestalt der Anlage begründet. Die Terrassenhaussiedlung grenzt sich klar von anderen, vertrauten Gebäudestrukturen der Umgebung ab und öffnet sich gleichzeitig durch die Stellung der Gebäude zur Nachbarschaft. Dadurch wird nicht nur eine hohe Identifikation der Bewohner mit „ihrer“ Siedlung, sondern auch eine Offenheit für Bewohner der Umgebung und Besucher der Terrassenhaussiedlung erreicht. Die dicht und heterogen gestalteten Außenräume laden zum Verweilen ein, während die fließenden Raumabfolgen die Neugierde zum Entdecken der Siedlung wecken. Das Betreten der Siedlung ist baulich klar definiert und wird durch die begrünten und trotzdem klar ablesbaren Raum-kanten strukturiert. Es bieten sich sowohl vielfältige Raumerlebnisse als auch eine klare Struktur, die Orientierung verspricht. Die Erschließungssituation durch Treppentürme, an denen pro Geschoss nur drei Wohnungen angeordnet sind, lassen Bekanntschaften unter den Nachbarn zu. Die Dichte der Erdgeschosszonen wird in den höheren Gebäudeteilen durch Weite und Ausblick abgelöst. Die unterschiedliche Ausformulierung der Wohnungsgrundrisse fördert eine heterogene Bewohnerstruktur und die Anpassungsfähigkeit der Grundrisse lässt langfristige Wohnverhältnisse zu. Durch das Kommunikationsgeschoss auf der Ebene des vierten Obergeschosses eröffnet sich eine Dreidimensionalität des „öffentlichen“ Raums, die der Orientierung im Komplex dienlich ist. Beim Erleben der Siedlung ergibt sich eine Abfolge von öffentlich zu privat – vom öffentlichen Straßenraum über die halböffentlichen Freiflächen und Treppenhäuser bis zur Wohnungseingangstür. Diese Überlagerung von öffentlichen und halböffentlichen bis hin zu privaten Räumen schafft individuelle Aneignungs- und Kommunikationsräume für die Gemeinschaft.

Auch führt die fußläufige Erschließung des Komplexes zu vielfältigen Kontakten. Auch wenn die Siedlung von einem starken Maß an Halböffentlichkeit geprägt ist, bilden die Räume zwischen den Gebäuden doch einen urban anmutenden Raum aus, der sich durch Komplexität und Vielfalt sowie Begegnung, Nachbarschaften und Rückzugsorte auszeichnet. Eugen Gross, Architekt der Werkgruppe Graz, stellt zwei Aspekte der Terrassenhaussiedung als ausschlaggebend für die Qualität und hohe Bewohnerzufriedenheit heraus: die Zwischenräume auf verschiedenen Ebenen, die zwischen Gemeinschaft und Individuum vermitteln, und die „freie Mitte“, die er als vorherrschendes Identifikationsmoment beschreibt. 19

Setzt man die aufgezeigten Qualitäten mit heutigen Wünschen urbanen Wohnens in Relation, so finden sich vielfältige Parallelen.

Seit einigen Jahren sind durch zunehmende Re-Urbanisierungstendenzen Themen wie Verdichtung, „Stadt der kurzen Wege“ und Funktionsmischung wieder aktuell. Gesellschaftliche Entwicklungen bringen heute vermehrt den Wunsch nach Aneignung und Identifikation mit sich. Es kann ein „urbaner Neuanfang“ konstatiert werden, der neue Arten des Zusammenlebens in Städten bedingt. 20 Individualität und Gemeinschaft, Dichte und Freiraum sowie der Wunsch nach gelebter Nachbarschaft, die sich beispielsweise durch das Teilen von Dingen und Räumen ergeben kann und durch die Nähe zu vielfältigen Funktionen des täglichen Bedarfs unterstützt wird, sind Schlagworte für diese Entwicklung21 Der Blick auf Wohnanlagen wie die Terrassenhaussiedlung Graz-St. Peter bietet Anregungen, wie Dichte, Komplexität und Vielfalt, verbunden mit klaren baulichen Strukturen, zu Qualitäten führen kann, die über viele Jahre hinweg und mit Blick auf wechselnden gesellschaftliche Anforderungen Identität, Aneignung und Gemeinschaft schaffen und eine hohe Bewohnerzufriedenheit ermöglichen.

 

 

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